- Komintern: Weltrevolution oder sowjetische Interessenpolitik
- Komintern: Weltrevolution oder sowjetische InteressenpolitikIm Jahr 1917 hoffte die bolschewistische Parteiführung, Russland werde mit seiner Revolution schon nicht allein bleiben, der Funke rasch auf Westeuropa überspringen. Das von Leo (Lew) Dawidowitsch Bronschtein, genannt Trotzkij, überlieferte Bonmot, mit dem er nach dem Oktoberumsturz seine Ernennung zum Volkskommissar des Äußeren kommentierte, brachte diese Erwartung zum Ausdruck: Er werde noch einige »revolutionäre Proklamationen an die Völker erlassen und dann die Bude (das Außenkommissariat) zuschließen«. Außenpolitik im herkömmlichen Sinne hielten die Bolschewiki nach der Weltrevolution für entbehrlich.Schon das von Lenin formulierte »Dekret über den Frieden« proklamierte das Ende der Außenpolitik; es wandte sich nicht nur an die Regierungen, sondern ausdrücklich auch an deren Völker, forderte beide auf, »unverzüglich« Frieden zu schließen, und verband diesen Aufruf mit dem unmissverständlichen Appell »an die klassenbewusstesten Arbeiter der drei fortgeschrittensten Nationen der Menschheit« (das heißt Deutschland, Großbritannien, Frankreich) mitzuhelfen, »die Sache der Befreiung der werktätigen und ausgebeuteten Volksmassen von jedweder Sklaverei und Ausbeutung erfolgreich zu Ende zu führen«.Die außenpolitische Absicherung SowjetrusslandsAls der Appell zur Revolution folgenlos verhallte und Lenin sich auf bilaterale Verhandlungen einließ, sogar die außerordentlich harten deutschen Bedingungen akzeptierte und die Annahme des in Brest-Litowsk ausgehandelten Diktatfriedens durchsetzte, stürzte er die von ihm geführte Sowjetregierung in ihre erste große Krise. Nicht nur die linken Sozialrevolutionäre verließen daraufhin die Koalition, auch in der eigenen Partei formierte sich der Widerstand. Wortführer der innerparteilichen Opposition waren die linken Kommunisten; sie warfen dem Partei- und Regierungschef vor, mit Imperialisten zu paktieren, statt die Umwandlung des Krieges in einen »Bürgerkrieg gegen das internationale Kapital« zu betreiben, eine Strategie, die zugleich die »Basis der Revolution« zu verbreitern versprach.Lenin konnte sich indes mit dem Argument durchsetzen, die Auseinandersetzung zwischen den kapitalistischen Blöcken biete dem revolutionären Russland die Chance einer Atempause und eine solche habe das Land bitter nötig, um das Erreichte zu sichern. Damit beantworteten die Bolschewiki die Frage nach dem Verhältnis von russischer Revolution und Weltrevolution zum ersten Male zugunsten der Existenzsicherung Sowjetrusslands. Die Entscheidung sollte künftig als Beispiel dienen, wenn auch der Vertrag von Brest-Litowsk ein halbes Jahr später annulliert werden konnte und die Gründung der »Kommunistischen (Dritten) Internationale« (Komintern) im Frühjahr 1919 die alte Zielsetzung fortzuschreiben schien.»Weltpartei« oder »Transmissionsriemen«? — Die KominternHatte 1919 der Gründungskongress der Komintern die »Proletarier aller Länder« aufgerufen, sich »im Kampfe gegen die imperialistische Barbarei, gegen die Monarchien, gegen die privilegierten Stände, gegen das bürgerliche Eigentum, gegen alle Formen der sozialen oder nationalen Bedrückung« zu vereinen, so legte 1920 der 2. Kongress in 21 Punkten die Bedingungen für die Aufnahme fest. Dazu gehörten das aktive Eintreten für die Revolution und die Diktatur des Proletariats, der vollständige Bruch mit »reformistischen« und »sozialpatriotischen« Kräften, eine entsprechende »Säuberung« des Personalbestandes in den eigenen Reihen und der Aufbau eines »revolutionären Apparates« auch in den »Massenorganisationen«, wobei wohl vor allem an die Gewerkschaften gedacht war.Jede kommunistische Partei, die der Internationale als »Sektion« beitrat und damit gleichsam Teil einer kommunistischen Weltpartei wurde, verpflichtete sich, der »Sowjetrepublik in ihrem Kampf gegen die konterrevolutionären Kräfte bedingungslos Beistand« zu leisten, und erkannte alle Entscheidungen des in Moskau residierenden Exekutivkomitees als »bindend« an. Diese Bestimmungen schufen die Voraussetzung dafür, dass der Apparat der Komintern und seine »Sektionen«, die kommunistischen Parteien der einzelnen Länder, in den 20er- und 30er-Jahren zu Instrumenten der Moskauer Außenpolitik werden konnten.1919/20 waren die Zukunftserwartungen allerdings noch groß: Dass wegen des Versailler Vertrags die Spannungen zwischen den »kapitalistischen Staaten« Westeuropas fortdauerten, konnte der eigenen Politik nur förderlich sein: Sie lenkten, so das Kalkül, von Sowjetrussland ab, verstärkten den Druck auf das deutsche Proletariat, bestätigten ihm den Raub- und Gewaltcharakter des Imperialismus, diskreditierten die SPD-Regierung und ließen die proletarische Weltrevolution als »einzige Rettung« erscheinen. Doch die Hoffnungen richteten sich nicht nur auf Westeuropa, sondern auch auf die »antiimperialistischen Befreiungsbewegungen« im Nahen und Fernen Osten; dank der Erfolge der Roten Armee sah man den Kapitalismus weltweit in der Defensive.Die »Doppelstrategie« der AußenpolitikSolange der Zusammenbruch des Kapitalismus ausblieb, sah sich das revolutionäre Russland zu einer »Doppelstrategie« gezwungen. Dabei fiel es dem Volkskommissariat des Äußeren zu, sich um die diplomatische Anerkennung Sowjetrusslands durch die Staatenwelt zu bemühen, die zugleich die Absicherung des Erreichten bedeutete. Währenddessen sollten über die Komintern insgeheim und wohl dosiert die weltrevolutionären Zielsetzungen weiterverfolgt werden, ohne die diplomatische Anerkennung zu gefährden.Schon 1920 wurden Friedensverträge mit den Anrainerstaaten Estland, Lettland, Polen und Finnland abgeschlossen und im März 1921 folgte ein Handelsabkommen mit Großbritannien. Nach dem Scheitern der alliierten Intervention, der Aufhebung der Blockade und der Niederlage der letzten Bürgerkriegsgegner beendete das Abkommen einen Krieg, der offiziell nie erklärt worden war. Wenngleich sich die Vertragspartner verpflichteten, von »jeglichen feindlichen Handlungen gegeneinander« Abstand zu nehmen, seien sie nun militärischer, diplomatischer oder propagandistischer Natur, brachte das Abkommen noch keine formelle Anerkennung Sowjetrusslands. Ihr standen nicht nur Zweifel an der sowjetischen Vertragstreue, sondern auch massive britische Forderungen materieller Art im Wege.So verlangten die Westalliierten die Rückzahlung der Russland vor der Revolution gewährten Kredite und eine Entschädigung für die nach dem Oktober enteigneten Vermögenswerte, was die Sowjetregierung — unter anderem mit dem Hinweis auf die Interventionsschäden — verweigerte. Der Versuch, diese offenen Fragen und Probleme im Frühjahr 1922 auf einer internationalen Wirtschafts- und Finanzkonferenz in Genua zu klären, scheiterte.Immerhin gelang der sowjetischen Diplomatie am Rande der Konferenz ein erster Durchbruch: Sie schloss mit der deutschen Delegation den Vertrag von Rapallo, der die Aufnahme diplomatischer und konsularischer Beziehungen regelte. Zugleich verzichteten die Vertragspartner auf die Erstattung von Kriegskosten und -schäden. Der sowjetischen Politik kamen dabei die »innerkapitalistischen« Spannungen zwischen Siegern und Besiegten des Ersten Weltkriegs zugute; sie minderten aus ihrer Sicht die Gefahr einer »kapitalistischen Einkreisung«. So blieb ihr die Pflege der Beziehungen zu Deutschland bis in die 30er-Jahre hinein ein besonderes Anliegen; der 1926 geschlossene Berliner Vertrag schrieb den Grundsatz strikter Neutralität bei Angriffen Dritter ausdrücklich fest und die Zusammenarbeit beider Staaten schloss auch den militärischen Bereich, mithin intensive Kontakte zwischen Reichswehr und Roter Armee, ein.»Der Aufbau des Sozialismus in einem Lande«Obwohl 1924 auch Großbritannien die Sowjetunion anerkannte — Italien, Norwegen, Österreich, Griechenland, Schweden und Kanada folgten in den nächsten Wochen seinem Beispiel —, blieben die Beziehungen gespannt. London empfand die revolutionäre, »antiimperialistische« und »antikolonialistische« Agitation Sowjetrusslands nicht nur als Bedrohung für das Mutterland, sondern erst recht als Gefährdung der britischen Interessen im Nahen Osten, in Persien, Afghanistan und China. Die wahrgenommene Bedrohung spielte auch in der britischen Innenpolitik eine herausragende Rolle, ein Problem, bei dessen Erörterung und Lösung sich keine Partei eine Blöße geben, jede die Chance zur Profilierung nutzen wollte: Sei es, dass ein angeblicher — wie sich später herausstellte, gefälschter — Brief des Kominternvorsitzenden auftauchte, der die britischen Kommunisten zu subversiver Tätigkeit in der Armee aufforderte; sei es, dass sowjetische Gewerkschaften streikenden britischen Kumpeln 16 Millionen Rubel zur Unterstützung anboten; sei es, dass die konservative, in Zugzwang geratene britische Regierung die sowjetische Handelsvertretung in London durchsuchen ließ und das — angeblich oder tatsächlich — gefundene Spionagematerial 1927 zum Anlass nahm, den Handelsvertrag zu kündigen und die diplomatischen Beziehungen abzubrechen.Es war im gleichen Jahr, als Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin, das Verhältnis von nationaler, sowjetischer und internationaler sowie weltrevolutionärer Zielsetzung auf die Formel brachte: Nur derjenige sei ein wahrer »Internationalist«, der »vorbehaltlos, ohne zu schwanken, ohne Bedingungen zu stellen«, bereit sei, im Interesse der Sowjetunion zu wirken und sie zu verteidigen. Die weltrevolutionäre Zielsetzung war endgültig hinter die sowjetische zurückgetreten, Staats- und Parteiführung hatten den — vorläufigen — »Aufbau des Sozialismus in einem Lande« beschlossen; der 14. Parteitag hatte sich im Dezember 1925 hinter diese Entscheidung gestellt. Inzwischen hatte sich auch in der Innenpolitik Entscheidendes getan.Prof. Dr. Helmut AltrichterGrundlegende Informationen finden Sie unter:Sowjetunion: Der russische Bürgerkrieg und die Gründung der SowjetunionRußland unter Hammer und Sichel. Die Sowjetunion 1917-1967, bearbeitet von Gert Richter. Gütersloh 1967.Solschenizyn, Alexander: Der Archipel GULAG, übersetzt von Anna Peturnig und Ernst Walter. Lizenzausgabe Reinbek 1994.Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, herausgegeben von Helmut Altrichter und Heiko Haumann. 2 Bände. München 1986-87.
Universal-Lexikon. 2012.